
Das Mädchen, der Drachen und der exzentrische Erfinder
Martha Pocock war nicht gerade das Idealbild der Frau im frühen 19. Jahrhundert. Sie war weder der Inbegriff der Sittsamkeit noch eine elegante Dame. Martha hatte Schneid und Sinn für das Ungewöhnliche: Sie war die erste Frau, die von einem Lenkdrachen in die Luft gehoben wurde.
Martha verdankte diese Flugerfahrungen ihrem Vater: George Pocock (1774–1843). Mr. Pocock war eigentlich ein Schuldirektor, aber seine Liebe galt den Wissenschaften und dem Erfinden. Seine berühmteste Erfindung ist eine Kutsche, die von Lenkdrachen gezogen wurde, statt von Pferden. „Das kann nicht sein!“, sagst du? Doch, doch, es ist wahr.
Die von Lenkdrachen gezogene Kutsche – Mr. Pocock nannte sie Charvolant – funktionierte tatsächlich. Zwei große Lenkdrachen, jeder an einem langen Seil befestigt, reichen aus, um eine Kutsche mitsamt Passagieren zu ziehen. Die Charvolant erreichte bei entsprechendem Wind eine Geschwindigkeit von 20 Meilen pro Stunde (zum Vergleich: sehr gute Kutschpferde laufen 16 Meilen pro Stunde). Martha begleitete ihren Vater oft, wenn er mit der Charvolant die Straßen zwischen Bristol und Marlborough entlang fuhr. Sie führte auch selbst die Zügel dieses rasanten Gefährts. Das ist aber noch nicht alles: Martha nahm an vielen Experimenten ihres Vaters teil. Und die waren mitunter recht abenteuerlich.
Erfindungen und Naturwissenschaft im Zeitalter der Romantik
Da Mr. Pocock Erfinder und Schuldirektor war, ist es sehr wahrscheinlich, dass Martha und ihre Geschwister eine Menge über Naturwissenschaften wussten, ganz besonders über die „Kunst der Aeropleustik“, wie Mr. Pocock es nannte, wenn man ein Gefährt mit Hilfe von Lenkdrachen und Luft navigierte.
Naturwissenschaften erfreuten sich im romantischen Zeitalter übrigens großer Beliebtheit. In der Tat kam es während des romantischen Zeitalters zu einer zweiten naturwissenschaftlichen Revolution, die zu einer Reihe von Forschungserfolgen, etwa auf den Gebieten der Astronomie, der Chemie und der Elektrizität, führte. Die Beschäftigung mit Naturwissenschaften war nun nicht länger nur einer Elite vorbehalten. Sie wurde zu einem Massenphänomen. Wissenschaftliche Vorträge wandten sich an eine breite Öffentlichkeit, und erstmals erhielten Kinder Unterricht in den Grundlagen der Naturwissenschaften. Erfinderische, kluge Menschen wie Mr. Pocock fanden Freiräume und technische Instrumente, um neue Ideen zu entwickeln und zu verfolgen.
Mr. Pocock verkörperte den idealen Wissenschaftler seiner Zeit: engagiert, beharrlich, experimentierfreudig und mit festem Vertrauen in die eigenen Ideen, egal wie widrig die Umstände auch sein mochten. Der Wissenschaftler des romantischen Zeitalters nahm alle Mühen auf sich, um das noch Unerforschte zu ergründen und das bislang Unversuchte zu erreichen. Seine Experimente führte er an sich selbst durch – und an seiner Familie.
Hilfe, mein Vater ist ein Erfinder!
Einen exzentrischen Erfinder als Vater zu haben, birgt gewisse Risiken. Marthas Bruder Alfred etwa wirkte an einem Experiment mit einem von Lenkdrachen gezogenen Schlitten mit:
Bei der Testfahrt nahm der Junge auf dem Schlitten Platz, die Seile, an denen der Schlitten verankert war, wurden gelöst – und ehe Junge oder Erfindervater sich versahen, sauste der Schlitten mit seiner menschlichen Fracht davon. Alfreds Testfahrt kam erst zu ihrem Ende, als das Gefährt auf einem Felsbrocken auf einer Wiese aufschlug. Alfred geschah zum Glück nicht mehr, als dass er über das Gras kugelte.
Martha nahm regelmäßig an den Experimenten ihres Vaters teil. Im Jahr 1824 wurde es für sie besonders abenteuerlich:
Mr. Pocock hatte einen Sessel an einem 9 Meter großen Lenkdrachen befestigt. Sein Ziel war es, Tochter und Sessel hoch in die Luft steigen zu lassen – und heil wieder zurück auf den Boden zu bringen. Martha nahm auf dem Sessel Platz. Das Ankerseil wurde gelöst und der Drachen stiegt mit hoch und höher. Sessel und Mädchen erreichten eine Höhe von 91,44 m (100 yards).
Nach der glücklichen Landung zeigte sich Martha unerschüttert von ihrem Erlebnis. Der Sessel sei leicht zu steuern und die Aussicht aus der Höhe ganz entzückend gewesen. Ihr Vater war begeistert: Dieses Abenteuer mache sie zum ersten Aeropleusten, verkündete er stolz.
Die Pococks – eine faszinierende Familie
Martha Pocock und ihre Familie sind außerordentlich spannend. Sie waren sicherlich nicht gerade eine typische Familie des 18. Jahrhunderts, zeigen aber, wie vielfältig diese Zeit gewesen ist und welche Möglichkeiten sie bot. Hier sind einige Fakten über Martha und ihre Familie:
- Martha wurde im Jahr 1812 geboren und wuchs im Jungen-Internat, das ihr Vater leitete, auf. Das Internat hieß “Prospect Place Academy” und lag in Bristol.
- Charvolant-Kutschieren wurde in der Gegend von Bristol der Trendsport der jungen Männer.
- Martha lernte ihren Ehemann Dank der Charvolant kennen: Ein gewisser Henry Mills Grace versuchte sich wie seine Altersgenossen im Charvolant-Kutschieren. Zweifellos beeindruckte es ihn, wie geschickt Martha Pocock – ein Mädchen! – das schwierige Gefährt lenkte. Er hielt um ihre Hand an und wurde erhört. Martha war 19 Jahre alt, als sie Henry heiratete.
- Abgesehen von der Charvolant erfand George Pocock ein Lenkdrachen-Boot, das auf dem Bristolkanal fuhr, und einen aufblasbaren Globus, mit dem man Kinder in Astronomie unterrichten konnte: Lehrer und Kind standen in dem aufgeblasenen Globus und betrachteten von dort aus die eingearbeiteten Sterne. Diese wurden durch das Tageslicht außerhalb des Globus erleuchtet.
Schau dir noch das Video über ein Experiment zu George Pocock’s Kutsche an
Quellen
- Pocock, George: The Aeropleustic Art or Navigation in the Air by the use of Kites, or Buoyant Sails; W. Wilson, 1827.
- Dent, Lynne „Book of the Month: The Aeropleustic Art or Navigation in the Air by the use of Kites, or Buoyant Sails; March 2001”; University of Glasgow, Special Collections Department, Library, Hillhead Street, G12 8QE, Scotland, United Kingdom.
- Holmes, Richard: The Age of Wonder; HarperPress, 2009.
- Low, Robert: G. Grace: An Intimate Biography; John Blake Publishing, 2004.
Ein Beitrag von Anna M. Thane, Autorin des Romans
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