Geschichte,  Jane Austen

Skandal um die Erbin

Jeder Fan des Regency kennt das Herrenhaus Lyme Park aus der Verfilmung von “Stolz und Vorurteil” mit Colin Firth und Jennifer Ehle als Pemberley, den Stammsitz von Mr. Darcy. Aber nicht nur als Drehort hat Lyme Park dramatische Geschichten kennengelernt. Das Herrenhaus hat eigene Geschichten zu erzählen. Eine davon steht ganz in der Tradition von Jane Austens Mr. Wickham und Mr. Darcy.

An den dramatischen Geschehnissen haben teil:

  • ein reicher Fabrikant,
  • eine Erbin,
  • ein charismatischer Schurke,
  • ein reicher, gutaussehender Gentleman.

Sie denken, dass es hier nach Entführung riecht? Und ob! Ehe wir uns in den Strudel der Ereignisse stürzen, werfen wir einen Blick auf den reichen, gutaussehenden Gentleman: Thomas Legh, Besitzer von Lyme Park.

Wer war Thomas Legh?

Thomas (1792 – 1857) war das älteste von sieben unehelichen Kindern, die sein Vater mit sieben verschiedenen Frauen gezeugt hatte. Sein genaues Geburtsdatum und der Name seiner Mutter sind unbekannt. Dennoch wuchsen Thomas und seine Geschwister in Lyme Park auf, als hätte es nie Unregelmäßigkeiten im Stammbaum gegeben.

Thomas, gerade vier Jahre alt, wurde 1797 Familienoberhaupt und Besitzer von Lyme Park. Das Herrenhaus war zu diesem Zeitpunkt ziemlich heruntergekommen. Glücklicherweise wuchs Thomas zu einem sehr wohlhabenden jungen Mann heran. Genau genommen war er sagenhaft reich. 1814 beliefen sich seine Jahreseinkünfte auf 30.000 Pfund (wer interessiert sich da noch für Mr. Darcy?).

Neue Pracht im Spukschloss

Thomas nutzte einen Teil seines Vermögens, um Lyme Park herauszuputzen. Er beauftragte den Star-Architekten Lewis Wyatt. Wyatt modernisierte nahezu jeden Raum. Er vergrößerte den Speisesaal, um mehr Platz für die Gästebewirtung zu schaffen. Er wagte sich sogar an die Umgestaltung des Knight’s Room, einem Schlafzimmer, in dem es spuken soll. Trotzdem wurde der Raum zu Thomas‘ Zeiten nur als Gästezimmer für unerschrockene Junggesellen genutzt. Angeblich gibt es auch einen Geheimtunnel, der vom Knight’s Room zu einem Turm namens “The Cage” im Park führt.

Entdeckungsreisen in ferne Länder

Thomas beschränkte seine Aktivitäten aber nicht auf den Hausbau. Er reiste nach Brüssel und half bei der Schlacht von Waterloo als inoffizieller Aide-de-camp aus, besuchte Wien und Konstantinopel, Syrien, den Libanon und Jordanien. Er wurde zu einem der berühmtesten Reisenden seiner Zeit. Seine Erlebnisse schilderte Thomas in seinem Buch Narrative of a Journey in Egypt and the Country beyond the Cataracts. Wenn Sie Abenteuergeschichten mit Krokodilen, Ausgrabungen, der Pest, Beinahe-Tod in einer Höhle und Anklagen wegen Mordes und schwarzer Magie mögen, können Sie es hier lesen. Vergessen Sie nicht, ein Gemälde anzusehen, das Thomas in ottomanischer Reisekleidung zeigt.

Auf seinen Reisen traf Thomas berühmte Ägyptologen wie Johann Ludwig Burckhardt und William John Bankes von Kingston Lacy. William Bankes bewunderte Thomas’ Kenntnisse über Ägypten, aber er nahm es Thomas übel, dass er ihm bei der Veröffentlichung seiner Abenteuer zuvorkam.

Entführung!

Im Alter von 33 Jahren war Thomas immer noch Junggeselle. Allerdings hatte der den vermögenden Fabrikanten William Turner zum Nachbarn. Mit diesem bestand eine Übereinkunft, dass Thomas dessen Tochter Ellen heiraten würde, wenn diese ihre schulische Ausbildung abgeschlossen hatte. Ellen, gerade 15 Jahre alt, besuchte ein angesehenes Internat für höhere Töchter in Liverpool. Thomas ahnte nicht, dass seine zukünftige Braut bald das Opfer eines skrupellosen Entführers werden sollte.

Auftritt des Schurken

Der George Wickham dieser Geschichte ist ein gewisser Edward Gibbon Wakefield (1796 – 1862). Er war eine charismatische Persönlichkeit, ein wenig stämmig, hatte strahlend blaue Augen und trug sein Haar etwas länger. Er war außerdem ehrgeizig: Er wollte ein Anwesen kaufen und ins Parlament gewählt werden. Dafür brauchte er Geld. Wakefield hatte vor Jahren schon einmal eine Erbin entführt und aus dieser Ehe 70.000 Pfund gewonnen. Da seine Frau vier Jahre später im Kindbett gestorben war, lag es nahe, diesen Trick noch einmal anzuwenden.

Wakefield wählte Ellen Turner, deren Mitgift eine halbe Million Pfund betrug, als passende Beute aus. Mit Hilfe seines Bruders William plante er, das Mädchen nach Gretna Green zu bringen. Er war sich sicher, dass Ellens Familie die Ehe offiziell anerkennen würde, um einen Skandal zu vermeiden, und dann würde ein Großteil ihres Besitzes an Wakefield übergehen. Zuerst aber musste er an das Mädchen kommen.

Ein heimtückischer Plan

Wakefield schickte einen Komplizen mit einer gefälschten Nachricht von Mr. Turner zu Ellens Internat. Die Nachricht besagte, Mrs. Turner sei schwer erkrankt und wünsche ihre Tochter umgehend zu sehen. Der Plan ging auf. Der Komplize lockte Ellen aus der Schule, packte sie in eine Kutsche und brachte sie nach Manchester. Wakefield übernahm das Weitere. Er erzählte dem Mädchen, ihr Vater habe sein Vermögen verloren und die Familie stehe am Rande des Ruins. Zum Glück aber könne er, Wakefield, ein Darlehen zur Verfügung stellen, um alle zu retten – wenn Ellen ihn heirate. Das unerfahrene Mädchen glaubte ihm und willigte ein.

Nach der Hochzeit in Schottland brachte Wakefield Ellen nach Frankreich. Inzwischen waren ihm Ellens Verwandte, der Anwalt der Familie und ein Polizist auf den Fersen. Sie spürten ihn und Ellen in Calais auf und führten das Mädchen zu seiner Familie zurück.

Der Gentleman greift ein

Wakefield kam vor Gericht – Thomas gehörte zu den zuständigen Friedensrichtern – und wurde zu drei Jahren Haft im Gefängnis von Newgate verurteilt. Die Ehe mit Ellen wurde per Parlamentsbeschluss annulliert.

Als Ellen nach Hause zurückkehrte, wurde sie von jubelnden Dorfbewohnern empfangen. Thomas begann, ihr den Hof zu machen, um die dunkeln Schatten zu vertreiben. Zwei Jahre später heirateten die beiden im großen Stil. Es gab ein Festmahl, die Braut war in feinste Seide gekleidet, und die örtlichen Arbeiter bekamen einen halben Tag frei.

Ellen und Thomas lebten in Lyme Park. Ellen wurde schwanger und schenkte einer Tochter das Leben.

… und sie lebten glücklich und zufrieden?

  • Ellens Vater machte die politische Karriere, von der Wakefield geträumt hatte: Er wurde als Kandidat der Whigs für Blackburn ins Parlament gewählt und war neun Jahre lang im Amt.
  • Nach seiner Entlassung setzte sich Edward Wakefield für Gefängnisreformen ein. Da er in der englischen Gesellschaft nicht mehr Fuß fassen konnte, widmete er sich zunächst in Australien und dann in Neuseeland wirtschaftlichen und politischen Aufgaben. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Gründer Neuseelands.
  • Die arme Ellen starb mit nur 19 Jahren am Kindbettfieber. Dass sie einst entführt worden war, blieb während ihres kurzen Lebens an ihr haften. In der Mitteilung zu ihrem Tod identifizierte sie das Gentleman’s Magazine als diejenige Dame, „für deren Entführung die Wakefields vor Gericht standen und ins Gefängnis kamen”.
  • Thomas heiratete 1843 zum zweiten Mal.

Quellen und weiterführende Literatur

Ein Beitrag von Anna M. Thane, Autorin des Romans
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